Antwort in einem Forum bei www.heise.de zu einem Artikel (bearbeitet)
Auf der einen Seite wird jungen Leuten in den (sozialen) Medien eine Berufswelt vorgeworben, mit der die Realität nicht Schritt hält. Influenzer, „bequem von zu Hause“ die Welt retten, „irgendwasmitmedien“. Und einen BA in „something“ muss es mindestens sein. Jeden Morgen aufstehen und sich als Azubi das Genöle vom Meister anhören: Das riecht nicht nach Erfolg. Und so lange der Hunger einen nicht treibt, gilt noch immer Paracelsius: Der Mensch lernt aus Not oder Überzeugung.
Auf der anderen Seite gilt, dass wenn es nur einen oder zwei Bewerber auf eine Stelle gibt, der Preis der Arbeitskraft steigt. Aus diesem Grund stoßen die Verbände und ihre PR-Agenturen regelmäßig ins Medien-Horn und verkünden den „Fachkräftemangel“ und danach den Untergang des Abendlandes dadurch. Schon Altkanzler Adenauer holte Menschen aus dem Süden Europas 1) auf Drängen der Industrie, die Sorgen um die Macht der Gewerkschaften und steigende Löhne hatten. Nach drei Jahren sollte ja alles wieder vorbei sein.
Was ist passiert? Berufliche Bildung und Qualifizierung leiden seit 20 Jahren unter einer verfehlten (Aus)bildungspolitik, die allein Hochschule und Uni als Lösung des Fachkräfteproblems sieht. Damit wurden die Qualität der Ausbildung von Fachkräften für die Forschung und Entwicklung verschlechtert, die Universität als Ort des Studium der Daseinsvorsorge entwertet und es wurde ein Trend geschaffen, der den „einfachen“ Beruf als minderwertigen Karriereweg erscheinen läßt. Jetzt sind alle unzufrieden: IT und Gewerbe barmen, keine Fachkräfte zu finden.
Abhilfe? Der Bologna-Prozess muss auf den Prüfstand. Das nach dem angelsächsischen Prinzip des „lehre, was geschrieben wurde“ strukturierte Bildungskonzept schwächt die Ausbildung und Entwicklung wirklich forschender Menschen. Er sollte zurückgeführt werden und dem Diplom als Grundlage wissenschaftlicher Ausbildung wieder Raum schaffen. Die Fach- und Ingenieur(hoch)schulen bieten ausreichendes Wissen und praktische Erfahrung für eine gute berufliche Entwicklung der Lernenden und Studierenden.
Auf der anderen Seite brachen die Hochschulen in den Bereich beruflich orientierter Tätigkeitsfelder ein und verminderten dort den Praxisbezug von vormals klassischen Ausbildungsfeldern zugunsten „wissenschaftlicher“ Methoden der Aneignung von Fertigkeiten und Fähigkeiten. Das Lern-Prinzip des „Nachahmens“ wurde überwiegend ersetzt durch das Prinzip „sieh zu, wie Du es Dir selbst beibringst“. Kostengünstiger in der Umsetzung und angepriesen als Selbstlernphase. Sehr viele andere Versäumnisse, konzeptlose oder unter falschen Annahmen umgesetzte Veränderungen der Politik in der Praxis der Lehre und Bildung (schon deren Aufzählung würde den Rahmen des Beitrags sprengen) führen u.a. zu den genannten Effekten. Am Ende des Prozesses gibt es nur noch Verlierer.
Der Autor ist seit über 20 Jahren im Bildungswesen tätig und hat Schulen der beruflichen Qualifizierung und Fachhochschulen aufgebaut und geleitet.
1) https://de.wikipedia.org/wiki/Anwerbeabkommen_zwischen_der_Bundesrepublik_Deutschland_und_Spanien
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